Arbeit mit angewandter Improvisation by Stefan Kollmeier

Improvisation als Schlüssel zur Transformation: Wie angewandtes Improvisationstheater Teams stärkt und Perspektiven erweitert

Improvisationstheater ist in der einfachsten Definition Theater ohne ein Skript. Kein gelbes Reclam-Büchlein von Goethe, Shakespeare oder Brecht bestimmt, was auf der Bühne passiert, sondern die Schauspieler:innen selbst, inspiriert vom Publikum und aus der Interaktion. Im Vordergrund steht dabei – zumindest für mich und viele andere meiner Kolleg:innen – weniger das Ausdenken und der schnelle Witz, sondern das gemeinsame (!) Erzählen einer Geschichte, Beziehungen zwischen den Charakteren und das Ergründen von Emotionen auf der Bühne. Ich spreche daher gerne von „Collaborative Storytelling“, wenn ich Improvisationstheater erkläre. Diese Zusammenarbeit auf der Bühne geschieht live. Es bleibt keine Zeit, sich unter den Akteur:innen abzusprechen oder etwas vorzubereiten. Nach der Inspiration geht es sofort los. Verschiedene Methoden, Prinzipien und Mindsets helfen dabei, diese Herausforderung zu meistern und Geschichten zu produzieren, die sogar abendfüllend sein können. Diese Prinzipien und Methoden lassen sich wiederum auf einen Organisations- oder Gesellschaftskontext, ein Teamsetting oder eine sonstige zwischenmenschliche Interaktion übertragen. So begründet sich die angewandte Improvisation.

Die wichtigsten Grundprinzipien kurz erklärt:

YES AND, auf deutsch am besten übersetzt mit “Ja genau, und…”: Ist das Verknüpfung, um aus den Inspirationen, die jeder einzelne auf der Bühne im Kopf hat, eine gemeinsame Geschichte zu weben. Das YES steht für ein aktives, radikales Zuhören. Ich lasse mich voll auf das ein, was von meinem Gegenüber kommt. Das bedeutet im gemeinsamen Spielen dann oft auch, eine tolle Idee, die man selbst hat, erstmal fallen zu lassen – ein Grund, warum Improschauspielende ihr Ego oft ganz gut im Griff haben. Das Zuhören alleine reicht jedoch nicht. Mit dem AND kommt dann der eigene Beitrag hinzu, der an die Idee des anderen anknüpft. Stein für Stein werden so das Storygebäude, die Welt und die Charaktere ausgebaut. Das Impro-Ensemble wird zu einem komplexen, adaptiven System, das sich immer wieder aufeinander und in Richtung des roten Fadens ausrichtet.

FIND THE GAME – finde das Spiel: Mit der Grundhaltung YES AND kann man nun anfangen zu spielen. Es kommt zum Flow und es entwickeln sich aus der Interaktion miteinander die “Regeln des Spiels”. Das Ensemble versucht, diese impliziten Regeln zu erkennen und bewusst weiterzuspielen. So entstehen Spielformen auf Zeit, die so lange bestehen, wie sie die Geschichte tragen. Das Ensemble steht immer wieder vor der Wahl, die Regeln fortzuführen oder zu brechen – eine Entscheidung zwischen Stabilität und Innovation.

ALLOW YOURSELF TO FAIL – Lasse Fehler zu: Durch die Unmittelbarkeit des Improvisationstheaters kommt es immer wieder zu Situationen, die den Fluss unterbrechen können. Eine Kommunikation geht schief, eine Geschichte nimmt durch einen Impuls eine unerwartete Wendung oder ein externer Impuls bringt einen komplett neuen Kontext mit sich. Nun ist die spannende Frage, wie das Ensemble mit diesen Herausforderungen umgeht. Zu Beginn passiert es häufig, dass die Geschichte stoppt, es wird analysiert, was “schief gegangen” ist und oft ist dann ein Neustart nötig. Mit ein wenig mehr Übung in der Haltung YES AND gelingt zunehmend das Akzeptieren der neuen Situation und ein Aufrechterhalten des Flusses. Im neuen Kontext werden neue Regeln gefunden und es geht weiter.

Angewendet auf die Welt abseits der Bühne ergeben sich mit diesen Prinzipien zahlreiche Möglichkeiten, um Komplexität, Zusammenarbeit in Team und Organisation oder Agilität zu thematisieren. Darüber hinaus hat Improvisationstheater noch den Aspekt, des PERSPEKTIVWECHSELS. Durch das Übernehmen und Einfühlen in verschiedene Rollen, trainiere ich Empathie und das mit dem ganzen Körper, statt nur auf dem Papier oder mit Worten. Ich begebe mich ganz wörtlich in die Schuhe eines anderen. Auch hier gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte vom Design Thinking und Kund:innenfokus bis hin zur Bearbeitung von Konflikten.

Wie sieht das in der Praxis aus: Die Arbeit mit angewandter Improvisation kann man ganz pragmatisch erstmal in zwei methodische Techniken unterscheiden:

  1. die Bearbeitung von Themen auf der Bühne mit den Teilnehmenden in einer passiveren Rolle oder
  2. die Arbeit im Workshop-Setting mit den Teilnehmenden in einer aktiven Rolle.

 

  1. Auf der Bühne geht es darum, die Themen einer Organisation oder eines Teams mit einer neuen Perspektive zu verarbeiten. Das Improvisationstheater kann durch verschiedene Spielformen, Transformationsthemen, Interaktionen, Konflikte in ein neues Licht rücken und vor allem METAPHERN anbieten, die ein neues Verständnis ermöglichen. Die Interaktivität und Unmittelbarkeit des Improvisationstheaters lässt das Geschehen auf der Bühne zu einem gemeinsamen Produkte werden, was die Immersion erhöht. Durch Humor, der oft dabei ist, (aber bei ernsteren Themen nicht zwingend dabei sein muss!) entsteht zudem eine Leichtigkeit, die Festgefahrenes wiede auflockern kann. Ein weiterer Aspekt ist das FORUMTHEATER. Hier spielen wir Situationen nach, die das Publikum beschäftigen und geben dem Publikum die Möglichkeit, auf das Geschehen Einfluss zu nehmen, Interventionen auszuprobieren und so für sich Lösungsstrategien zu finden. Zum Beispiel haben wir zuletzt mit 3.000 Führungskräften der WISAG verteilt auf zahlreiche Workshops kritische Gesprächssituationen auf der Bühne simuliert oder für die Lufthansa zwei Gruppen in der Organisation einen Rollentausch ermöglicht. Im Gegensatz zu im Vorfeld geskripteten Szenen haben wir mit Improvisationstheater die Möglichkeit, die Szenen so realitätsnah wie möglich zu gestalten.
  2. WorkshopSettings: In Workshops arbeiten wir mit angewandten Improvisationstheater mit den Teilnehmenden direkt. Es geht erstmal nicht darum, sie zum Spielen auf der Bühne zu bringen. Das liegt vor allem daran, dass viele Menschen das gar nicht wollen. Lampenfieber ist sehr verbreitet. In den Workshops nutzen wir also niedrigschwellige Einstiegsübungen, um mit den Prinzipien des Improvisationstheaters zu arbeiten. Das sind vor allem Übungen in Paaren oder auch in der Großgruppe. Dabei geht es zunächst darum, einen geschützten Raum zu schaffen und nach und nach mehr zu wagen. Das klappt oft schon nach 1 bis 2 Stunden. Die Teilnehmenden erfahren es, wie es ist, sich aufeinander mit dem Prinzip YES AND einzulassen, wie gemeinsame Ideen entstehen, erschaffen kollaborative Geschichten und erleben, was es braucht, damit man in EINER Geschichte landet und nicht zu dritt drei parallele Geschichten erzählt. Mit Übungen zu FIND THE GAME werden Regeln in der Gruppe ausgehandelt und wieder verworfen. Mit Großgruppenübungen können so komplexe, selbstorganisierte Systeme aufgebaut und erlebt werden. Auch in Workshops geht es oft um das Finden und Weiterspinnen von METAPHERN, die Themen im Arbeits- oder sonstigen Interaktionskontext auf eine neue Art besprechbar machen. Mit der ROLLENARBEIT werden in Workshops neue Perspektiven möglich. Im geschützten Rahmen eines Workshops wird es in bestimmten Settings möglich, kritische Situationen zu simulieren und mögliche Lösungen auszutesten. Ein Beispiel für ein Workshop-Setting ist eine Reihe, die ich für die DekaBank umgesetzt habe. Im Rahmen des Transformations- Projektes “Deka-Way” haben wir die Werte Mut, Offenheit und Fokus mit angewandtem Improvisationstheater analysiert und fassbar gemacht. Hier hat sich gezeigt, dass sich angewandtes Improvisationstheater auch online umsetzen lässt.

Über den Autor:

Stefan Kollmeier ist systemischer Organisationsentwickler, Führungskräftetrainer und Agile Coach sowie Leiter der Improvisationstheaterensembles #rational-verrückt und AI Theatre. Als ehemaliger Wirtschaftsingenieur berät er vor allem Konzerne und mittelständische Unternehmen. Vor 15 Jahren entdeckte er das Improvisationstheater für sich und integrierte es nach und nach in seine Berufspraxis. Stefan hat mit seinem Ensemble mehrere Konferenzen zum Thema Applied Improvisation veranstaltet und zahlreiche Führungskräfte-Entwicklungsprogramme für internationale Unternehmen designt und durchgeführt. Besonders begeistert ihn die Verbindung von Wissenschaft und Theater, zuletzt mit der Reihe Science Stories und AI Theatre.

www.stefankollmeier.de

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte dich auch interessieren