Systemisches Arbeiten:
Warum der Konstruktivismus unsere Perspektive verändert
Was ist Realität – und wie entsteht sie?
Diese Frage klingt zunächst philosophisch, beinahe abstrakt. Doch sie ist zentral für eine Haltung, die im systemischen Arbeiten nicht nur ein theoretisches Fundament bildet, sondern praktisch spürbar wird: den Konstruktivismus.
Der Konstruktivismus ist die Annahme, dass wir die Welt nicht so sehen, wie sie ist – sondern so, wie wir sind. Anders gesagt: Es gibt keine objektive, von allen gleich wahrnehmbare Realität. Stattdessen konstruieren wir unsere Wirklichkeit durch unsere Erfahrungen, unsere Sprache, unsere Herkunft, durch das, was wir gelernt haben, und durch die Bedeutungen, die wir bestimmten Ereignissen zuschreiben. Jeder Mensch lebt – bildlich gesprochen – in seiner eigenen Version der Welt.
Diese Sichtweise verändert alles. Denn wenn wir davon ausgehen, dass Realität nicht einfach ist, sondern entsteht, wird klar: Auch unser Denken, Fühlen und Handeln ist nicht starr, nicht festgelegt, nicht „wahr“ oder „falsch“. Es ist ein Ausdruck unserer inneren Landkarte – unserer ganz persönlichen Konstruktion der Welt.
Die Bedeutung für die systemische Praxis
In der systemischen Sichtweise steht nicht das einzelne Individuum im Fokus, sondern das Zusammenspiel von Menschen im jeweiligen Kontext: in Familien, Teams, Organisationen oder sozialen Systemen. Entscheidungen, Verhalten, Konflikte oder Symptome werden nicht isoliert betrachtet, sondern immer in ihrer Wechselwirkung mit dem Umfeld verstanden.
Wenn wir nun den konstruktivistischen Gedanken dazu nehmen, ergibt sich ein entscheidender Perspektivwechsel: Wir hören auf, Menschen zu bewerten – und beginnen, sie zu verstehen. Wir fragen nicht mehr: „Was ist hier das Problem?“ sondern eher: „Welche Sichtweisen gibt es auf diese Situation? Und welche Bedeutungen entstehen daraus?“ Systemisches Arbeiten bedeutet deshalb auch, bewusst auf Kategorien wie „richtig“ und „falsch“, „normal“ oder „gestört“ zu verzichten. Stattdessen wird in Möglichkeiten gedacht. In Hypothesen. In Relationen. Das verändert die Gesprächsführung. Es verändert, wie wir zuhören. Und es verändert, wie wir Veränderung überhaupt denken.
Ein Beispiel aus der Praxis
Stellen wir uns vor, eine junge Frau in einem sozialen Jahr wird von Kolleg:innen als „zurückhaltend“ oder gar „unmotiviert“ beschrieben. In einem klassischen Erklärungsmodell könnte man schnell auf individuelle Defizite schließen: Sie sei eben schüchtern, unsicher, vielleicht nicht belastbar. Im systemischen Arbeiten würde man stattdessen fragen: In welchem Zusammenhang steht dieses Verhalten? Welche Dynamiken im Team beeinflussen diese Zurückhaltung? Welche Erwartungen werden – bewusst oder unbewusst – an sie gestellt? Welche Geschichte bringt sie mit?
Und: Wie beschreibt sie selbst die Situation? Vielleicht fühlt sie sich nicht unmotiviert, sondern überfordert. Vielleicht hat sie gelernt, lieber nichts zu sagen, um nicht negativ aufzufallen. Oder sie wartet darauf, dass sie explizit eingeladen wird, sich einzubringen – weil sie das so gewohnt ist.
Plötzlich entstehen neue Perspektiven. Und mit ihnen neue Handlungsmöglichkeiten – auf beiden Seiten.
Konstruktivismus als Haltung
Der Konstruktivismus ist nicht nur eine Theorie über Wirklichkeit. Er ist eine Einladung, sich selbst und andere immer wieder neu zu sehen. Eine Einladung, weniger zu bewerten und mehr zu fragen. Weniger zu erklären – und mehr zu verstehen. Es geht nicht darum, alles gleichgültig nebeneinander stehen zu lassen. Sondern darum, bewusst zu unterscheiden zwischen dem, was ist, und dem, wie wir es erleben.
Diese Haltung macht systemisches Arbeiten so lebendig und gleichzeitig so respektvoll. Sie führt dazu, dass Menschen sich gesehen fühlen – in ihrer eigenen Sicht auf die Dinge. Und sie eröffnet Räume, in denen Veränderung überhaupt erst möglich wird. Denn was wir anders sehen können, können wir auch anders gestalten.
Realität ist nicht fix – sie ist verhandelbar
Systemisch zu arbeiten heißt, die Idee aufzugeben, dass es die eine Wahrheit gibt. Stattdessen heißt es, Vielfalt anzuerkennen – und produktiv damit umzugehen. Wenn wir die Wirklichkeit als etwas verstehen, das wir gemeinsam erschaffen, dann wird Beziehung zu einem Raum der Gestaltung. Dann können wir Unterschiede nutzen, statt sie zu bekämpfen. Und dann entstehen Lösungen oft dort, wo vorher nur Probleme sichtbar waren.
Im Konstruktivismus liegt deshalb kein Rückzug ins Beliebige – sondern eine zutiefst humanistische Botschaft: Menschen handeln nicht auf die Welt, wie sie ist – sondern auf die Welt, wie sie sie erleben.
Über die Autorin:
Melanie Balle-Günthör bringt eine tiefe Leidenschaft für systemische Veränderungsprozesse und traumasensible Begleitung mit. Als Geschäftsführerin von Traumstudio, EMDR Coach, systemische Organisationsentwicklerin und erfahrene Traumapädagogin steht sie für nachhaltige Entwicklung in sozialen Systemen. Seit über 15 Jahren begleitet sie Fachkräfte, Teams und Organisationen in Transformationsprozessen – stets mit dem Blick auf Resilienz, Selbstfürsorge und wirksame Zusammenarbeit.
Mit einem fundierten Hintergrund als Diplom-Sportwissenschaftlerin (Schwerpunkt: Freizeit und Kreativität) sowie Ausbildungen in systemisch-integrativer Beratung (DGSF), Traumapädagogik (DeGPT) und agiler Moderation (Basic Agil Master), vereint sie körperorientierte, systemische und traumasensible Perspektiven auf einzigartige Weise.
Ihre Schwerpunkte liegen in der Teamentwicklung, Leitungskräfte-Coachings, Gewaltprävention sowie Fort- und Weiterbildungen im Bereich Trauma, Deeskalation und systemischer Gesprächsführung – immer mit einem wertschätzenden, klaren und praxisnahen Ansatz.
Melanie ist überzeugt: Echte Veränderung beginnt dort, wo Menschen sich gesehen fühlen – und gemeinsam neue Wege gestalten.
