Zirkuläre Fragetechniken

Wie Perspektivwechsel neue Handlungsspielräume eröffnen

Wenn Menschen zu mir in eine systemische Beratung kommen, bringen sie selten nur ein einzelnes Problem oder Thema mit. Vielmehr tragen sie ein ganzes Geflecht aus Beziehungen, Erwartungen, Rollen und unausgesprochenen Dynamiken in sich. In der systemischen Arbeit betrachten wir Anliegen deshalb nicht isoliert, sondern als Teil eines größeren Zusammenhangs. Ein besonders wirkungsvolles Werkzeug, um diesen Zusammenhang sichtbar zu machen, sind zirkuläre Fragetechniken. Sie helfen Klient:innen dabei, festgefahrene Sichtweisen zu weiten, neue Perspektiven einzunehmen und so Handlungsspielräume zu entdecken, die zuvor verborgen waren.

Zirkuläre Fragen stammen aus der Mailänder Schule der systemischen Familientherapie. Ihr Grundgedanke ist einfach und gleichzeitig tiefgreifend: Anstatt nach Ursachen zu suchen, richtet man den Fokus auf die Beziehungen und Wechselwirkungen innerhalb eines Systems. So entsteht ein Verständnis dafür, wie Themen entstehen, wie sie aufrechterhalten werden und an welchen Stellen Veränderung möglich ist. Während lineare Fragen nach dem „Warum“ suchen, laden zirkuläre Fragen dazu ein, in unterschiedliche Perspektiven zu schlüpfen und das eigene Erleben aus der Sicht anderer zu betrachten. Dadurch entstehen neue Bedeutungsräume und oftmals überraschende A-Ha-Momente.

Warum diese Art des Fragens so wirksam ist, lässt sich leicht erklären: Viele Menschen sind in ihren inneren Erzählungen so vertraut, dass sie ihre Perspektive kaum noch hinterfragen. In der systemischen Beratung beobachten wir häufig, dass Klient:innen durch zirkuläre Fragen auf einmal Möglichkeiten sehen, die vorher nicht existierten. Eine Frage wie „Was würde Ihr Partner sagen, warum dieses Thema gerade so wichtig für Sie ist?“ öffnet einen Zugang zu Gedanken, die sonst im Alltag meist nicht bewusst reflektiert werden. Andere Fragen richten sich stärker auf Beziehungen und Dynamiken, etwa wenn wir danach fragen, wie sich das Verhalten einer Person verändert, wenn eine andere Person bestimmte Reaktionen zeigt. Ebenso wirkungsvoll sind zukunftsorientierte Fragen, die sich mit hypothetischen Szenarien beschäftigen und die Vorstellungskraft aktivieren. Das ist ein wichtiges Element, wenn es darum geht, innere Bewegungen anzuregen und Veränderungsenergie freizusetzen.

Wie kraftvoll zirkuläre Fragen wirken können, lässt sich gut an einem kleinen Beispiel verdeutlichen: Eine Klientin berichtet, dass sie im beruflichen Kontext immer wieder Aufgaben übernimmt, die nicht in ihrem Verantwortungsbereich liegen. Sie fühlt sich überfordert und gleichzeitig nicht in der Lage, „Nein“ zu sagen. Eine lineare Frage würde vermutlich nach den Gründen für dieses Verhalten suchen oder womöglich der Klientin implizit die Schuld daran geben, dass sie nicht nein sagen kann: „Warum setzen sie nicht einfach eine Grenze?“. Eine zirkuläre Frage jedoch könnte lauten: „Wenn Ihre Kollegin hier wäre, was würde sie sagen, warum Sie die Aufgaben an sich ziehen?“ Durch diese Frage wird die Klientin eingeladen, das Verhalten aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Plötzlich entsteht ein Raum für Hypothesen, für neue Deutungen und für das Erkennen von Mustern, die vorher unsichtbar waren. Manchmal lassen sich bereits durch eine einzige solche Frage mehrere blinde Flecken erhellen.

Zirkuläre Fragen gibt es in vielen Varianten:

  • Fragen, die zum Perspektivwechsel einladen;
  • Fragen, die sich auf Beziehungen und Wechselwirkungen beziehen;
  • Fragen, die Ressourcen sichtbar machen;
  • Fragen, die hypothetische Zukunftsszenarien entwerfen
  • und nicht zuletzt reflexive Fragen, die das Nachdenken über das eigene Denken anregen.

All diese Formen haben eines gemeinsam: Sie öffnen Räume, statt sie zu schließen. Sie ermöglichen Einsicht, ohne etwas vorzugeben. Und sie laden zu Entdeckungen ein, die aus der eigenen inneren Weisheit entstehen.

Entscheidend für die Wirkung dieser Fragen ist allerdings die Haltung, mit der sie gestellt werden. Die systemische Grundhaltung zeichnet sich durch Neugier, Offenheit und ein echtes Interesse an den Bedeutungswelten der Klient:innen aus. Fragen wirken nur dann befreiend, wenn sie nicht belehrend oder steuernd formuliert werden. Zirkuläre Fragen sollen nicht manipulieren oder auf eine „richtige“ Antwort hinauslaufen, sondern lediglich Möglichkeiten eröffnen. Ebenso wichtig ist das richtige Maß: Ein zu schnelles Fragenfeuerwerk kann überfordern. Oft ist weniger mehr und eine gut platzierte Frage, die Raum bekommt, kann wirksamer sein als fünf aufeinanderfolgende Impulse.

Viele meiner Klient:innen berichten nach unseren Sitzungen, dass ihnen die Art und Weise der Fragen – also zirkuläre Fragen – helfen, Abstand zum Problem zu gewinnen und klarer zu erkennen, welche Dynamiken am Werk sind. Nicht selten entsteht dadurch ein Gefühl von Erleichterung, weil sich etwas sortiert oder weil sich eine neue Option zeigt, die vorher nicht sichtbar war. Perspektivwechsel schafft Freiheit und Freiheit schafft Bewegung.

Arten zirkulärer Fragen

Perspektivwechselfragen

Diese Fragen laden dazu ein, das eigene Erleben aus der Sicht anderer Personen zu betrachten. Sie öffnen neue Wahrnehmungsräume und reduzieren Selbstzentriertheit oder Problemverhaftung.

Beispiele:

  • „Was würde Ihre Partnerin sagen, warum dieses Thema für Sie gerade so wichtig ist?“
  • „Wie würde Ihre beste Freundin Ihre aktuelle Situation beschreiben?“
  • „Wenn Ihr Chef hier wäre, was würde er denken, was Sie gerade am meisten belastet?“
  • „Was glaubt Ihr Kind, warum Sie sich immer wieder so entscheiden?“
  • „Wie würde jemand, der Sie sehr gut kennt, erklären, warum Ihnen dieser Schritt schwerfällt?“
  • „Welche Rolle würden Ihre Eltern Ihnen in dieser Situation zuschreiben?“

Beziehungs- und Wechselwirkungsfragen

Hier geht es um Dynamiken, Wechselwirkungen und Interaktionsmuster zwischen Personen oder innerhalb eines Systems.

Beispiele:

  • „Wie verändert sich Ihr Verhalten, wenn Ihr Gegenüber gereizt reagiert und wie verändert sich dann dessen Verhalten wieder?“
  • „Wer ist am meisten betroffen, wenn sich an der Situation etwas ändert?“
  • „Wie reagiert Person X normalerweise, wenn Sie einen Schritt auf sie zugehen?“
  • „Was passiert in Ihrem Team, sobald Sie sich zurückziehen?“
  • „Wie beeinflusst Ihre Entscheidung die Stimmung in Ihrer Familie?“
  • „Wer übernimmt welche Rolle, wenn dieser Konflikt entsteht?“

Hypothetische Fragen und Zukunftsfragen

Diese Fragen öffnen Möglichkeitsräume und erleichtern das Denken jenseits des aktuellen Problems. Sie fördern Kreativität und Visionen denken.

Beispiele:

  • „Was wäre anders, wenn Sie morgen mit einem kleinen Stück mehr Gelassenheit aufwachen würden?“
  • „Wie würde Ihre Situation in sechs Monaten aussehen, wenn sich heute etwas Entscheidendes verändert?“
  • „Was würde passieren, wenn Sie sich in dieser Situation anders verhalten würden als sonst?“
  • „Wie wäre die Dynamik in Ihrem Team, wenn alle Beteiligten sich einen Schritt aufeinander zubewegen würden?“
  • „Was wäre die kleinste mögliche Veränderung, die dennoch spürbar etwas erleichtern würde?“
  • „Welche Auswirkung hätte es, wenn das Problem nur halb so stark wäre wie jetzt?“

Ressourcenfragen

Diese Fragen lenken den Blick weg vom Problem hin zu Kompetenzen, Beziehungen und hilfreichen Fähigkeiten. Besonders wertvoll für Empowerment.

Beispiele:

  • „Wer in Ihrem Umfeld würde zuerst bemerken, dass Sie mutiger geworden sind?“
  • „Wann ist Ihnen eine ähnliche Situation bereits gut gelungen und wer könnte davon erzählen?“
  • „Welche Ihrer Stärken kommt hier bisher zu wenig zum Einsatz?“
  • „Wer unterstützt Sie in solchen Momenten? Vielleicht auch still und unsichtbar?“
  • „Welche Ressource in Ihnen wird durch dieses Thema gerade neu angesprochen?“
  • „Wem könnten Sie etwas zutrauen, das Ihnen helfen würde, einen Schritt weiterzugehen?“

Motivations- und Bedeutungsfragen

Diese Art von Fragen helfen zu verstehen, welche Bedeutung ein Thema im persönlichen System hat, welche Werte wirken oder welche inneren Anteile beteiligt sind.

Beispiele:

  • „Welche Bedeutung hat dieses Thema für Sie und woran würden Sie das erkennen?“
  • „Was sagt diese Reaktion über das aus, was Ihnen wirklich wichtig ist?“
  • „Wovor könnte dieses Verhalten Sie schützen wollen?“
  • „Welche Rolle spielt dieses Thema in Ihrem bisherigen Lebensweg?“
  • „Welche Botschaft (hinter dem genannten Thema) steckt möglicherweise hinter Ihrem Wunsch nach Veränderung?“
  • „Welche inneren Stimmen sind hier aktiv und was wollen sie Ihnen sagen?“

Reflexive Meta-Fragen

Diese Fragen lenken die Aufmerksamkeit auf den Prozess selbst und fördern die Selbsterkenntnis im Moment. Sehr hilfreich für Abschluss oder Integration.

Beispiele:

  • „Was hat sich während unseres Gesprächs bereits in Ihrem Denken verändert?“
  • „Welche Perspektive überrascht Sie selbst gerade am meisten?“
  • „Was nehmen Sie aus dem heutigen Austausch konkret mit?“
  • „Wie würden Sie erklären, was in den letzten Minuten in Ihnen passiert ist?“
  • „Welche Ihrer bisherigen Annahmen wirkt jetzt weniger starr als zu Beginn?“
  • „Was möchten Sie aus diesem Gespräch in Ihren Alltag mitnehmen?“

 

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Melanie Balle-Günthör

Melanie Balle-Günthör

Geschäftsführerin von Traumastudio und Expertin für Sytemische Arbeit

Sie ist systemisch-integrative Beraterin, systemische Organisationsentwicklerin, Traumapädagogin & traumzentrierte Fachberaterin, EMDR-Coach & Diplom Sportwissenschaftlerin.

Als erfahrene Dozentin und Coachin für Trauma- und Systemische Fort- & Weiterbildungen, bringt sie zusätzlich jahrelange Erfahrung in der systemische Organisationsentwicklung in sozialen Einrichtungen mit.

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