Serie - Traumastudio I Kompetenzzentrum für systemisch-stressorbasiert Arbeiten
Weißt du eigentlich, was systemisch-stressorbasiert bedeutet?
Durch den Zusammenschluss der systemischen Denkweise mit der traumapädagogischen Grundhaltung, haben wir daraus einen für uns sehr passenden Ansatz entwickelt: Den systemisch-stressorbasierten Ansatz. Dieser verbindet die beiden Denkweisen und wird zu einem ganzheitlichen Konzept, das sowohl die individuelle Lebensgeschichte der betroffenen Person als auch die systemischen Einflüsse berücksichtigt. Dabei wird nicht nur der Stress als unmittelbare Reaktion auf belastende Erfahrungen verstanden, sondern auch die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Lebensbereichen, wie Familie, Schule oder Arbeit, in den Blick genommen. Unser Ansatz fördert das Verständnis für die komplexen Dynamiken, die in traumatischen Erlebnissen und deren Auswirkungen auf die Wahrnehmung und das Verhalten einer Person wirken.
Das ganzheitliche Denken ermöglicht es uns, Stress – und die daraus entstehenden positiven und negativen Konsequenzen – als ein Phänomen zu betrachten, das in ein größeres, miteinander verknüpftes System eingebettet ist. Stress entsteht nicht isoliert, sondern ist das Ergebnis von Wechselwirkungen zwischen der betroffenen Person, den Einflüssen aus der Vergangenheit, die den Menschen geprägt haben und ihrer aktuellen Umwelt. Diese Perspektive eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten und trägt dazu bei, dass Stressoren in ihrer gesamten Komplexität erkannt und nachhaltig bearbeitet werden können. Das hilft uns, gezielt und effektiv unterstützende Maßnahmen zu entwickeln.
In weiteren Beiträgen beschreiben wir die für uns wichtigsten Elemente des systemisch-stressorbaserten Ansatzes. Wir beginnen mit dem ganzheitlichen Denken und der systemischen Perspektive in der Arbeit mit Stressoren:
Ganzheitliches Denken und systemische Perspektive in der Arbeit mit Stressoren
Die systemisch-stressorbasierte Arbeit erfordert ein ganzheitliches Denken, das über die isolierte Betrachtung individueller Stressoren hinausgeht und die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Ebenen und Systemen berücksichtigt. Stress wird dabei nicht als isoliertes Phänomen des Einzelnen betrachtet, sondern immer im Kontext eines größeren, miteinander verflochtenen Systems verstanden. In unserer Arbeit geht es darum, diese Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen, dass Stressoren durch eine Vielzahl von Einflüssen entstehen können.
So kann eine innere Unruhe beispielsweise nicht nur durch die aktuelle persönliche Lebenssituation einer Person bedingt sein, sondern auch durch Dynamiken im sozialen Umfeld, den Arbeitsbedingungen oder gesellschaftlichen Normen und Erwartungen. Ein systemisch-stressorbasierter Blick hilft, diese Vielschichtigkeit zu erkennen und in die Arbeit zu integrieren, um so adäquat auf die Bedürfnisse der betroffenen Person einzugehen.
Wechselwirkungen verstehen: Die Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt
In einem weiteren Schritt geht es darum, die Wechselwirkungen zwischen der Person und ihrer Umwelt zu verstehen. Stress wird hier als Resultat aus drei Interaktion verstanden (in Anlehnung an Niklas Luhmann). Es geht um eine Interaktion mit dem eigenen biologischen System, dem eigenen kommunikativen System und der zwischen dem Individuum und seiner Umgebung. Diese Perspektive nimmt an, dass Stress nicht nur durch das Verhalten oder die Erlebnisse des Einzelnen entsteht, sondern durch die Art und Weise, wie die Umwelt auf die Person einwirkt und über welche Ressourcen und Fähigkeiten die Person verfügt. Daraus ergeben sich Gefühle und Gedanken – Glaubenssätze, die unser Verhalten prägen. Es entsteht ein dynamisches Zusammenspiel, bei dem Stress nicht als einmaliges Ereignis, sondern als ein kontinuierlicher Prozess innerhalb des gesamten Systems verstanden wird.
Ein Beispiel:
Malik war neun Jahre alt, als eine einzige Situation in der Schule seine Zukunft prägte. Es war ein gewöhnlicher Vormittag, als ihn seine Lehrerin vor die Klasse bat, eine Matheaufgabe an der Tafel zu lösen. Er stand auf und stand vor den Zahlen. Doch er wusste nicht, wie er die Aufgabe lösen konnte. „Wie kannst du das nicht verstehen? Das ist doch Grundwissen!“ sagte die Lehrerin. Die Klasse lachte leise, einige tuschelten. Malik spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Seine Hände zitterten, seine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Er wollte am liebsten im Boden versinken. „Setz dich wieder!“ Sprach die Lehrerin, „wer sagt mir das Ergebnis?“ Die Situation war vorbei, ging insgesamt nur ein paar Minuten, doch von diesem Tag an änderte sich etwas in ihm: Er vermied es, sich zu melden. Er sprach nicht mehr vor der Klasse. Jahre vergingen, doch das Gefühl der Scham blieb. In der Oberstufe wich Malik Referaten aus, ließ andere für ihn sprechen oder nahm schlechte Noten in Kauf. Die Angst, erneut bloßgestellt zu werden, war zu groß. Im Erwachsenenalter hatte dieses Erlebnis noch immer Auswirkungen. Malik mied Meetings, vermied es, vor Gruppen zu sprechen, selbst in kleinen Runden…
Die systemische Perspektive hilft dabei, diese Wechselwirkungen zu identifizieren und zu reflektieren, um die Ursachen von Stress auf mehreren Ebenen anzugehen und nicht nur einzelne Symptome zu behandeln.
Kontextualisierung: Stresssituationen im größeren sozialen, kulturellen oder strukturellen Kontext verorten
Ein weiterer zentraler Aspekt der systemisch-stressorbasierten Perspektive ist die Kontextualisierung von Stress. Jede als individuell empfundene überfordernde Situation wird nicht isoliert betrachtet, sondern immer im größeren Kontext von sozialen, kulturellen oder strukturellen Gegebenheiten verortet. Es geht darum, die spezifische Lebenssituation der betroffenen Person anzunehmen. Das bezieht sich auf eine traumapädagogische Grundhaltung: Die Annahme des guten Grundes. Wir brauchen die Vergangenheit nicht kennen um den „guten Grund“ anzunehmen. Stress ist oft das Ergebnis von belastenden Bedingungen im sozialen Umfeld, die in bestimmten gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Strukturen verankert sind.
Ein Beispiel: Lisa, die in einer schwierigen finanziellen Situation lebt, leidet unter chronischem Stress, weil sie sich u.a. ständig mit den Herausforderungen der Armut auseinandersetzen muss. Hier ist nicht nur der individuelle Stress von Lisa von Bedeutung, sondern auch die gesellschaftlichen Strukturen und politischen Rahmenbedingungen, die Armut verursachen und aufrechterhalten. Eine systemisch-stressorbasierte Herangehensweise würde nicht nur den stressbedingten Zustand von Lisa betrachten, sondern auch die sozialen und strukturellen Barrieren, die ihr den Zugang zu Ressourcen erschweren.
In der Arbeit mit stressbelasteten Menschen ist es daher von entscheidender Bedeutung, diese sozialen und strukturellen Kontexte zu berücksichtigen, um nicht nur den individuellen Stress zu verstehen, sondern auch Lösungen auf der systemischen Ebene zu finden.
Wie geht es weiter?
Im nächsten Artikel stellen wir die Grundpfeiler der systemischen und der traumapädagogischen Arbeit vor und zeigen den Mehrwert einer Verknüpfung beider Disziplinen.
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