Miniserie - Teil 3 I Systemische Ansätze in der Arbeit mit Stress von Melanie Balle-Günthör

Teil 3 – Ein neuer Blickwinkel

Was ist ein systemischer Ansatz?

Der systemische Ansatz betrachtet den Menschen als Teil eines größeren Ganzen – seines „Systems“. Dieses System umfasst nicht nur das individuelle Erleben und Verhalten, sondern auch das soziale und berufliche Umfeld, Beziehungen, kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse sowie u.a. die individuellen Erfahrungen und Werte einer Person. Anders als herkömmliche Ansätze, die oft isoliert auf den Einzelnen fokussieren, beleuchtet der systemische Ansatz das Zusammenspiel aller Faktoren und erkennt an, dass unser Erleben und Handeln von diesen vielfältigen Wechselwirkungen geprägt ist.

Stress im systemischen Kontext

Systemische Ansätze sehen Stress nicht nur als persönliches oder individuelles Problem, sondern als Ausdruck von Interaktionen und Strukturen innerhalb eines Systems. Eine Person, die unter Stress leidet, steht nicht isoliert, sondern agiert in einem System, das bestimmte Muster oder Dynamiken aufrechterhält, die wiederum Stress erzeugen oder verstärken. Stress kann durch Erwartungen, Rollen, Kommunikation und unausgesprochene Normen entstehen – Faktoren, die im gesamten System eingebettet sind.

Ein systemischer Ansatz versucht daher, die Ursachen und Muster von Stress in einem größeren Kontext zu verstehen und zu bearbeiten. Dabei werden folgende Grundsätze besonders wichtig:

  1. Betrachtung von Beziehungen und Interaktionen: Statt ausschließlich die individuelle Reaktion auf Stress zu analysieren, richtet der systemische Ansatz den Blick auf Beziehungen und Interaktionen. Welche Kommunikationsmuster sind innerhalb der Familie oder des Teams vorhanden? Gibt es unausgesprochene Erwartungen? Solche Fragen helfen, Stressoren auf einer tieferen Ebene zu identifizieren.
  2. Erkennen von Rollen und Erwartungen: Stress wird oft durch die Erfüllung (oder das Scheitern daran) bestimmter Rollen und Erwartungen ausgelöst. In der Familie kann es die Rolle des „Kümmerers“ sein, im Beruf die Rolle des „Problemlösers“. Der systemische Ansatz hilft dabei, bewusst zu machen, welche Rolle man im System einnimmt und welche Erwartungen – oft unausgesprochen – an einen gestellt werden.
  3. Fokus auf Ressourcen und Stärken: Systemisches Denken ist lösungs- und ressourcenorientiertes Handeln: Welche unterstützenden Faktoren gibt es bereits? Welche Fähigkeiten und Ressourcen kann die Person oder das System aktivieren, um mit Stress besser umzugehen? Dieser Blickwinkel kann dabei helfen, Lösungen zu entwickeln, die auf den vorhandenen Potenzialen aufbauen.

Praktische Anwendung des systemischen Ansatzes in der Stressarbeit

Wie sieht die praktische Anwendung des systemischen Ansatzes in der Arbeit mit Stress aus? Hier einige Techniken und Methoden, die oft genutzt werden:

  • Genogramm-Arbeit: Hier wird eine Art „Familienstammbaum“ erstellt, der zeigt, welche Beziehungen und Dynamiken innerhalb der Familie eine Rolle spielen. Ein solches Genogramm kann dabei helfen, wiederkehrende Muster zu erkennen und deren Auswirkungen auf das aktuelle Stressniveau zu verstehen.
  • Reflexionsfragen: Der systemische Ansatz stellt oft Fragen, die den Blickwinkel verändern. Anstatt „Warum fühle ich mich gestresst?“ lautet die Frage vielleicht „Welchen Nutzen hat der Stress in meinem Leben oder meinem System?“ Diese Fragen öffnen neue Perspektiven und können unbewusste Dynamiken sichtbar machen.
  • Systemische Aufstellungen: In dieser Methode werden die verschiedenen Teile eines Systems, etwa Familienmitglieder oder Teamrollen, symbolisch im Raum positioniert. Dies hilft, unbewusste Dynamiken sichtbar zu machen und neue Lösungswege zu finden. Auch die Aufstellungsarbeit des eigenen inneren Teams ist eine wunderbare Methode, um die eigenen Anteile miteinander sprechen zu lassen.

Der systemische Ansatz ist mehr als eine Methode. Wenn wir uns länger damit beschäftigen und die Zeit als einen Prozess sehen, wird aus dem Nutzen von Techniken eine Haltung. Probiere es aus 😊, denn „Was ist das Schlimmste, was passieren kann?“

 

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte dich auch interessieren

Arbeit mit angewandter Improvisation

Arbeit mit angewandter Improvisation

Arbeit mit angewandter Improvisation by Stefan KollmeierImprovisationstheater ist in der einfachsten Definition Theater ohne ein Skript. Kein gelbes Reclam-Büchlein von Goethe, Shakespeare oder Brecht bestimmt, was auf der Bühne passiert, sondern die...

mehr lesen